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»Unsere Straße« von Jan Petersen

Aktualisiert: 29. Aug. 2023

Ende August erscheint bei uns Jan Petersens Unsere Straße. Der literarische Tatsachenroman berichtet detailgetreu und zugleich hoch spannend aus dem Widerstand gegen die Nationalsozialisten in Berlin 1933/34. Mehr über Autor, Hintergründe und Rezeptionsgeschichte erzählt Eckhard Gruber hier exklusiv im ungekürzten Nachwort.


I

In Berlin gibt es rund 9500 Straßen. Die kürzeste Straße der Stadt reicht gerade einmal sechzehn Meter weit, die längste erstreckt sich über annähernd zwölf Kilometer. Jede der Straßen hat ihr eigenes Gepräge, ihr bestimmtes Licht, ihre typischen Geräusche, ihren besonderen Flair, ist Heimstatt unverwechselbarer Bewohnerinnen und Bewohner und hat nicht zuletzt auch ihre ureigenste Geschichte. Freilich sind die meisten Straßen unauffällig und spielen im kollektiven Gedächtnis der Stadt kaum eine Rolle: Die Jan-Petersen-Straße ist so ein Fall. Am 14. Oktober 1981 wurde sie zu Ehren des Autors benannt – gleichsam ein neues und hoffnungsfrohes Ost-Pendant zu „Unserer Straße“ im „alten“ Westen der Stadt. Inmitten der DDR-Plattenbausiedlung Marzahn gelegen, finden sich in ihrem Umkreis Straßennamen von Künstlern, die, wie Petersen, gegen den Nationalsozialismus aufbegehrten – Lea Grundig oder Ludwig Renn seien genannt. Das soll ein erster Fingerzeig dafür sein, dass auch Nebenstraßen mitten im politischen Raum angesiedelt sind. Und sei es auch „nur“ durch die Entscheidung, welche Menschen durch die Benamung dem Vergessen entrissen, welche geehrt – oder welche „vergötzt“ werden sollen... Im vorliegenden Roman ist die NS-Straßenzuwidmung ein letzter zynischer Akt des Regimes gegen die Bewohner der „roten“ Wallstraße – ein Ritual der Demütigung, das sich in eine Vielzahl von Repressionen nach 1933 einreiht.

Damit sind wir bei „Unserer Straße“ angelangt. Die Wallstraße aus dem Buch heißt heute Zillestraße und ist in Berlin-Charlottenburg, nahe der Deutschen Oper, zu finden. Wie die Straße damals ausgesehen hat kann man heute nur noch an wenigen Häusern erahnen. Ihr Verlauf zeigt noch immer den typischen Knick, das Umspann-werk ist ebenfalls geblieben, sowie die Häuser Nr. 15, 16, 18 und 38. Und auch heute gehört die Straße nicht eben zu den „hippen“ Quartieren Berlins. Sozialbauten aus den 1950er-Jahren sowie Sozialer Wohnungsbau aus den 1980er-Jahren prägen das Erscheinungsbild. Ihren jetzigen Namen Zillestraße erhielt unsere Straße am 31. Juli 1947. Jan Petersens Roman war da seit wenigen Monaten auch für Leser in Berlin zugänglich – aber es muss offen bleiben, welchen Anteil das Buch an der Tilgung des Straßennamens aus der Zeit der NS-Diktatur gehabt hat.

Gedenktafel für Richard Hüttig in der Seelingstraße (Foto: OTFW, Berlin)

Petersens Buchvorschlag, die Straße in Richard-Hüttig-Straße umzubenennen, wurde 1947 nicht umgesetzt. Allerdings existiert nahe der Gedenkstätte Plötzensee im Angedenken an den dort am 14. Juni 1933 hingerichteten kommunistischen Widerstandskämpfer ein Richard-Hüttig-Pfad.

Und noch eine letzte Berliner Örtlichkeit soll Erwähnung finden, die im weiteren Sinne mit „Unserer Straße“ verbunden ist: Die Rabindranath-Tagore-Straße 11 im Ortsteil Grünau. Hochgeehrt – politisch aber kaltgestellt – wohnte Jan Petersen dort nach der Rückkehr aus dem Exil in einer für die „schaffende Intelligenz“ errichteten DDR-Einfamilienhaussiedlung bis zu seinem Tod am 11. November 1969. Mit seinem Nachbarn, dem Schriftsteller Stefan Heym, war er eng befreundet, und geriet mehr als einmal ins Visier der Staatssicherheit, weil er am Staatsfeiertag nicht flaggte und Umgang mit dem DDR-Oppositionellen Robert Havemann pflegte.[2]

Persönlich verbittert legte er 1958 den Vorsitz des Berliner Schriftstellerverbandes nieder, war mit mächtigen Schriftstellerkollegen über Kreuz. Gegenüber Anna Seghers und Stephan Hermlin etwa hegte Petersen, so hat das sein Freund Günter Kunert überliefert, „eine kräftige Antipathie (...), weil sie ihn als den Proleten, der er war, behandelt hätten und außerdem behaupten, ihm sein eigenes Buch fertiggeschrieben zu haben.“[3] Welchen Anteil letztgenannte Schriftsteller an der Gestalt des vorliegenden Buches Unsere Straße hatten, lässt sich allerdings heute leider kaum mehr überprüfen ...


II

Ortswechsel – Kriminalgericht Moabit – 1927. Als die Schriftstellerin Gabriele Tergit von einer Reise auf die griechischen Inseln zurückkommt, nimmt sie ihre Reportagetätigkeit für das Berliner Tageblatt über die dortigen Gerichtsverhandlungen wieder auf:

„Man kommt zurück (...) nach vielen Wochen gelösten Inseldaseins, (...). Grüß euch Gott alle miteinander auf der Anklagebank, zwei Rote Frontkämpfer, (...), ein Nationalsozialist (...). Es war eine von den leichteren Bolzereien unserer schlagfreudigen Jugend. Alle führen Worte wie „überfallen“, „auf die Nase schlagen“, „niederstechen“ (...) im Munde, mit denen sie selbstverständlich nur eine passive Bekanntschaft gemacht haben.“[4]

Oder anders formuliert: Das Berlin der ganz und gar nicht goldenen 1920er-Jahre hatte sie wieder, das sogar „harmlos“ war, angesichts dessen, was noch kommen sollte. Hohe Jugend-arbeitslosigkeit infolge der Weltwirtschaftskrise, Desintegration aufgrund zerrütteter Nachkriegsverhältnisse, eine vaterlose Gesellschaft, eine auf dem rechten Auge blinde Justiz, hilflose Polizisten, moskaugläubige Kommunisten – sowie Naziführer und Sturmabteilungen (SA), die Legitimität und Terror als Königswege zur Beseitigung der verhassten Demokratie begriffen und die Gewaltspirale in immer unmenschlichere Dimensionen schraubten, sorgten für zunehmend desolate Zustände in der Reichshauptstadt. Alleine 1932 zählte die preußische Polizei zwischen rechts und links 5300 gewalttätige Zusammenstöße.[5] Aufmärsche, Straßenkrawalle, Saalschlachten, Körperverletzungen und bald auch Morde waren an der Tagesordnung. „Grausig diese Bürgerkriegsatmosphäre“, schreibt Tergit am 18. Dezember 1931:

„Spießgesellen, gedungene Mörder und Befehlshaber, die den Mord diktieren. (...) Jetzt (...) herrscht bei sehr vielen die Psychose des Bürgerkrieges.“[6] Und nur wenig später: „Ein Überfall auf ein Lokal – ein Gast schwer verwundet – niemand wird verhaftet – niemand wird bestraft – niemand wird verfolgt. Man weiß es, es ist der Sturm 33, dort in der Röntgenstraße, es ist der Terror. Aber keine Zeitung meldet so etwas, keine Polizei gibt es als Nachricht weiter – es ist der Bürgerkrieg als Gewohnheit.“[7]

In diesem „Bürgerkrieg als Gewohnheit“ kehren wir mit besagtem „Sturm 33“ zum Buch zurück, denn einer der übelsten Berliner SA-Trupps hatte in der Röntgenstraße, in unmittelbarer Nähe zur Wallstraße sein „Sturmlokal“. Von diesen festungsartig ausgebauten Stützpunkten terrorisierte die im Frühjahr 1928 gegründete, etwa 300 Männer umfassende Vereinigung die Umgebung. Zahlreiche Körperverletzungen und vier Morde in kurzer Folge ab Ende Januar 1931 brachten diesen jungen, meist arbeitslosen Angestellten, Handwerkern und Arbeitern, die nun in Totschlägerei unterwegs waren und in Alkohol, Gewalt und Männerkameraderie eine neue Heimat und Ersatzfamilie fanden, den Namen „Mördersturm 33“ ein. „Wenn der Sturmtrupp 33 einen Abendspaziergang in Berlin machte, lagen hinterher Leute mit eingeschlagenem Schädel auf der Straße“, so sei letztmals Gabriele Tergit zitiert.[8] Freilich waren diese Gewaltexzesse selten spontan und galten vielen als „Erfolg“. Denn die Mitgliederzahlen der Berliner SA verzeichneten seither starke Zuwächse und Gauleiter Joseph Goebbels, einer der Anstifter des Straßenterrors, erklärte: „Man diskutierte über uns, und es blieb dabei nicht aus, dass in der Öffentlichkeit mehr und mehr gefragt wurde, wer wir denn eigentlich seinen und was wir wollten.“[9]

Spreestraße, Ecke Wallstraße im frühen 20. Jahrhundert

Ziel der Anschläge des „Mördersturms 33“ waren zumeist die nahegelegenen Arbeiterstraßen, denn west-lich der Schloßstraße befan-den sich im reichen Char-lottenburg um die Dankel-mann- und Nehringstraße Arme-Leute-Viertel und KPD-Hochburgen, die in Anleh-nung an den Arbeiterbezirk im Norden der Stadt „Kleiner Wedding“ genannt wurden. Ziel dieser „Expeditionen in feindliches Gebiet“ war auch die Wallstraße, die sich als KPD-Enklave in östliche Richtung mitten in die kleinbürgerlichen Wohnviertel vorschob. Für neun Jahre Jan Petersen in der Wallstraße, bevor er zu Beginn der 1930er-Jahre in die nahegelegene Knesebeckstraße zog.


Nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler sowie nach dem anschließenden Fackelzug der SA durch das Brandenburger Tor kam es dann in der Nacht des 30. Januar 1933 zu jenen Ereignissen, die die Wallstraße überregional bekannt machten und die im vorliegenden Buch behandelt werden. Sei es als Demonstration neugewonnener Macht oder um „endlich“ ein Exempel gegenüber den KPD-Bewohnern zu statuieren, die ein dichtes Netz – wie etwa die Häuserschutzstaffeln – zu ihrer Verteidigung aufgebaut hatten: Der Rückweg des „Mördersturms 33“ führte in der Nacht „zufällig“ durch die Wallstraße, wo es prompt zu schweren Zusammenstößen zwischen der SA, Polizei und kommunistischen Arbeitern kam. Bei einem Tumult wurden dabei der Schutzpolizist Josef Zauritz sowie der Anführer des „Sturms 33“, Hans-Eberhard Maikowsky, erschossen. Damalige Zeugenaussagen bestätigten Petersens Vermutung, Maikowsky sei – ob gewollt oder ungewollt – von den eigenen Leuten umgebracht worden. Möglicherweise resultierte der Tod des zweiten Mordopfers Josef Zauritz aus dessen Pech, Zeuge eines NS-Mordkomplotts geworden zu sein – die Vernehmungsakten zu den Vorgängen sind leider nicht mehr erhalten. Neuerdings sind jedoch in einem Gutachten Belege darüber gefunden worden, dass Joseph Goebbels selbst den Auftrag zur Ermordung Maikowskys gegeben habe.

Wie dem auch sei: Für Goebbels bot beider Tod den hochwillkommenen Anlass, einerseits im Oktober 1933 einen großen Schauprozess gegen 56 Angeklagte, die fast ausnahmslos der KPD angehörten, anzustrengen – und andererseits Hans-Eberhard Maikowsky, wie vor ihm Horst Wessel, zum „Blutzeugen“ und „Märtyrer der Bewegung“ zu glorifizieren. Maikowskys Leichnam wurde am 5. Februar feierlich im Berliner Dom aufgebahrt. Er erhielt das erste Staatsbegräbnis des „Dritten Reiches“. Die pompöse Totenfeier wurde reichsweit vom Rundfunk übertragen, wobei der Radiosprecher den SA-Führer mit Friedrich dem Großen verglich. In der Nähe von Richthofen und Scharnhorst auf dem Berliner Invalidenfriedhof beigesetzt, existiert Maikowskys Grabstätte heute nicht mehr.

Als Hilfspolizei eingesetzte SA beim Waffenappell (Bundesarchiv, Bild 102-02974A / CC-BY-SA 3.0)

Die Nacht vom 30. zum 31. Januar 1933 wird jedoch noch in einer weiteren Hinsicht bedeutsam. Denn hier schon ist der Wille der SA spürbar, ohne Zeitverzug und mit aller Brutalität Anders-denkende zu verfolgen – was unter dem Schutzschirm der bald gleichgeschalteten staatlichen Institutionen, Petersen vermerkt exakt die Polizei- und Justizwillkür im beginnenden Terror-Staat, dann auch geschieht. Weit über den Sommer 1933 hinaus setzt in Berlin und im Reich eine in der deutschen Geschichte bis dahin beispiellose Terrorwelle ein, für die zum Großteil die seit dem 22. Februar 1933 eingerichtete SA-Hilfspolizei verantwortlich ist. Verschleppungen, Misshandlungen und Totschlag werden zum Alltag in Berlin – über das ganze Stadtgebiet entstehen mehr als 220 Folterstätten und nicht weniger als elf frühe Konzentrationslager.

Eines dieser Lager ist das im Buch geschilderte nahe der Wallstraße gelegene ehemalige Volkshaus der SPD in der Rosinenstraße 4, heute Loschmidtstraße 8. Um die Unterwerfung des okkupierten „feindlichen“ Gebietes zu unterstreichen, besetzte es die SA schon im Februar 1933 und benannte es in „Maikowski-Haus“ um. Aber auch andere Orte des Nazi-Terrors werden im Buch erwähnt, etwa die Konzentrationslager im Columbia-Haus, in der General-Pape-Straße sowie das KZ-Brandenburg, ferner die Gestapozentrale in der Kreuzberger Prinz-Albrecht-Straße 8 oder das Gefängnis der Politischen Polizei am Alexanderplatz. Mit alledem bietet Pertersens Werk tiefe Einblicke in die Topographie des frühen NS-Terrors 1933/34 – auch wenn wichtige Orte und Ereignisse – allem voran die „Köpenicker Blutwoche“ vom 21. bis 26. Juni 1933, an deren Morde und Grausamkeiten auch der Charlottenburger „Mördersturm 33“ beteiligt war, im Roman nicht aufgeführt werden.

Dass dagegen die entfernt gelegenen Arbeiterkämpfe im Wiener Karl-Marx-Hof gegen die Dollfuß-Diktatur im Februar 1934 Erwähnung finden, mag als erster Beleg dafür dienen, dass auch diese „Chronik“ eine subjektive Zusammenstellung an Ereignissen darstellt. Die Solidaritäts-bekundung mit dem Kampf österreichischer Arbeiter ist dabei der Wirkungsabsicht Petersens geschuldet, im Ausland für den eigenen Kampf Sympathien einzuwerben – bei gleichzeitiger Aufklärung der Weltöffentlichkeit über den NS-Terror im Deutschen Reich.


III


Ortswechsel – Paris – Theatersaal der „Mutalité“ – 21. bis 25. Juni 1935. Bis zu 250 Autoren nehmen an dem Ersten Internationalen Schriftstellerkonkress zur Verteidigung der Kultur teil, bei dem um die Frage gerungen wird, wie die NS-Diktatur wirkungsvoll zu bekämpfen sei. Neben Bertolt Brecht, Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, Klaus Mann, Anna Seghers und vielen anderen deutschen Autoren, die von den Nazis ins Exil vertrieben wurden, beteiligen sich Schriftsteller aus 37 Ländern an der Tagung, darunter Robert Musil oder Aldous Huxley. Ihren „emotionalen Höhepunkt“[10] bildet eine am vorletzten Tag gehaltene – und von André Gide übersetzte – Rede. In ihr beschwört ein „Delegierter aus Westdeutschland“ im Namen der illegalen deutschen Schriftsteller den Schulterschluss mit allen freiheitlich Gesinnten und berichtet über die Gefahren des Schreibens im NS-Staat. Es sei schwer im „Dritten Reich“ für die Ideale des Friedens und des Fortschritts zu kämpfen, so der Delegierte:

„Das Wort der Wahrheit wird im Munde erstickt, und wer es ausspricht, wird gemartert. (...) Trotz alledem! Es gibt eine illegale Literatur in Deutschland. (...) Doch ich will euch nicht das Leben in Hitlerdeutschland schildern. Davon sprechen die drei Romanmanuskripte und die fünfzig Kurzgeschichten und Gedichte, die ich mitgebracht habe und von denen ein Teil bereits in der illegalen Presse erschienen ist. (...) Als wir (...) durch unsichtbare Kanäle die (...) Aufrufe (...) lasen (...) da schlugen unsere Herzen höher: Wir fühlten aus jeder dieser Zeilen: wir kämpfen nicht allein (...). Keine noch so hohe, keine noch so braune Mauer vermag uns von euch zu trennen!“[11]

Für beide Seiten, für die im deutschen Widerstand Kämpfenden wie für die Exilschriftsteller, war die Rede von großer Bedeutung: Zeigte sie doch den innerdeutschen Antifaschisten, dass sie im Kampf gegen Hitler auf Hilfe von „Außen“ setzen konnte und umgekehrt den Exilanten und der Welt, dass die Bevölkerung und die Nazis – im Gegensatz zur geschönten NS-Propaganda – keinesfalls deckungsgleich waren. Deutschland ist nicht Hitler, lautete dementsprechend der programmatische Titel der Rede, die von einem mit dunkler Brille maskierten Herrn gehalten wurde. Plante der Redner doch nach dem Konkress nach Deutschland zurückzukehren, um den Widerstand gegen das unmenschliche Regime fortzusetzen.

Zu einer Rückreise des Mannes ist es in den nachfolgenden Tagen, Monaten und Jahren – von Frankreich nach der Schweiz, nach England und Kanada führte sein Weg im Exil – nicht gekommen. Denn „Klaus“, wie sein Deckname lautete, war rechtzeitig gewarnt worden. Elf seiner Mitstreiter und er waren in Berlin an die Gestapo verraten worden, wobei unser Delegierter Glück im Unglück hatte. Wurden doch andere seiner Gruppe, darunter Herta Block, Magarete Wieder, Erich Lodemann oder Kurt Steffen anschließend wegen „Hochverrats“ zu langjährigen Zuchthausstrafen verurteilt. Tatsächlich findet sich in den Gestapo-Akten ein Dokument des Geschehens, auch wenn die grausamen Konsequenzen für die Beteiligten, der Verrat, die Verhaftungen, die Verhöre und die Folter von der Behördensprache verdeckt werden: Im Bericht des Sicherheitsdienstes des Reichsführer-SS vom 26. September 1935 an das Reinhard Heidrich unterstellte Hauptquartier der Geheimen Staatspolizei Berlin in der Kreuzberger Prinz-Albrecht-Straße 8 heißt es:

„Ende des Jahres 1934 wurde bekannt, dass der „Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller“ (...) größere Aktivität entfaltete. Einem V.-Mann gelang es, in diese Organisation einzudringen und sich im Laufe der Zeit das Vertrauen der führenden Mitglieder zu erwerben. (...) Hans Schwalm (...) war Reichsleiter des Bundes. Seit 2 Monaten wohnt er in Paris. Als Grund für seinen derzeitigen Aufenthalt in Paris müssen die Haussuchungen angesehen werden, welche bei ihm stattgefunden haben. – Er hielt vor allem die Verbindungen zu den offiziellen Stellen der KP. und verschickte die von den Mitgliedern verfassten literarischen Arbeiten an eine Prager Stelle, (...) die sie teilweise (...) veröffentlichte. (...) Im Sommer 1934 schrieb er einen Roman über die Maikowski-Straße im kommunistischen Sinne.“[12]

Jan Petersen (links) im Gespräch mit Willi Bredel, 1950 (Bundesarchiv, Bild 183-S98591 / Rudolph / CC-BY-SA 3.0)

Damit verlassen wir vorerst die Berliner und Pariser Ereignisse Mitte des Jahres 1935 und widmen uns dem Verfasser und Buch näher. Denn man wird es erraten haben: Der Delegierte mit dem Decknamen „Klaus“ und der von der Gestapo aufgespürte Leiter des illegalen Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller (BRPS), Hans Schwalm, sind mit unserem Autor Jan Petersen identisch.

Geboren wird Hans Schwalm am 2. Juli 1906 in Berlin als Sohn eines Maurers. Er absolviert eine kaufmännische Ausbildung, lernt Dreher und Werkzeugmacher und wird mit 15 Jahren Mitglied der sozialistischen Naturfreunde-Organisation, dann des mitgliederstarken Berliner Arbeiter-Turn- und Sportvereins Fichte[13]. 1930 tritt er in die Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) ein. Ende der 1920er-Jahre verfasst er zunächst Gedichte für den von ihm geleiteten Sprechchor „Internationale Arbeiterhilfe“ und kleinere Prosastücke, die in verschiedenen KPD-nahen Zeitungen, ab Mai 1932 auch in der Roten Fahne, veröffentlicht werden. Bald wird er mit dem Redakteur der Roten Fahne, Johannes R. Becher, bekannt, der zugleich Mitbegründer und Erster Sekretär des 1928 gegründeten BPRS ist. 1931 übernimmt Schwalm seine organisatorische Leitung. Nach Maßgabe Bechers soll die kommunistische Schriftstellerorganisation „im Dienst (der) Klasse“ „den Kampf (...) gegen jede Art bürgerliche Literatur“ aufnehmen, die „Anwendung des Marxismus auf die Literatur“ ergründen, und eine „Literatur von unten“ fördern „als die schärfste und brauchbarste künstlerisch-literarische Waffe (...) im Klassenkampf“.[14]

Hans Schwalm dient in dieser Zeit aber nicht allein mit Worten diesem Ziel, sondern auch ganz handfest: Mit entsicherter Pistole, so hat das der Schriftsteller Günter Kunert überliefert, ist er zum Schutz Johannes R. Bechers abgestellt, bewacht dessen Schlaf, in dem er im Vorraum aufpasst.[15] Denn Becher, einer der schillerndsten aber auch fragwürdigsten Protagonisten der deutschen Literatur des letzten Jahrhunderts, steht gegen Ende der Weimarer Republik auf zahlreichen schwarzen Listen seiner politischen Gegner. Mit Beginn der Nazi-Diktatur veröffentlicht Schwalm wenn nicht anonym, dann unter zahlreichen Pseudonymen, darunter Claus Halm, Otto Erdmann und Erich Otto in Exilzeitschriften und illegalen Blätter. Spätestens Mitte 1934 kommt auch der Name Jan Petersen hinzu. Schwalm wird Zeit seines Lebens diesen Namen tragen. Veröffentlichte er doch unter diesem Künstlernamen seinen größten literarischen Erfolg, den hier vorliegenden Roman. Und auch der wird in beiden Quellen schon genannt; in der Gestapo-Akte als „Roman über die Maikowski-Straße im kommunistischen Sinne“, und von Petersen selbst als eines der „Romanmanuskripte“, die über die Verhältnisse der Nazidiktatur aufklären.

Tatsächlich sollte es Mitte 1935 jedoch noch mehr als ein Jahr dauern, bis Unsere Straße als Buch erschien – wobei einzelne Abschnitte daraus schon vorab veröffentlicht wurden. Alleine sechs von ihnen erschienen zwischen April 1935 und Februar 1936 in Exilzeitschriften.[16] So wurde die eindringliche Schilderung des Martyriums Erich Mühsams aus dem vorliegenden Buch separat unter dem Titel Sie konnten ihn nicht beugen am 18. Juli 1935 in der Moskauer Deutschen Zentral-Zeitung veröffentlicht. Fast ein Jahr nach der bestialischen Ermordung des Anarchisten im KZ-Oranienburg führte es die NS-Lügen ad absurdum, Mühsam habe sich selbst erhängt.[17] Zwei Wochen später folgte dann, um ein weiteres Beispiel zu nennen, die kleine Erzählung um die Verhaftung Heinz Preuß’ unter dem Titel Helden der Partei.

Die Komposition des Romans begünstigte solche Vorabveröffentlichungen, denn er unterteilt sich in ungefähr achtzig, lose aneinandergereihte, meist nur wenige Seiten starke und in sich abgeschlossene Episoden. Diese Struktur zeugt zugleich von der Entstehung des Buches in der Illegalität, denn an ein kontinuierliches Schreiben in weiten Erzählbögen war angesichts des Verfolgungsdrucks nicht zu denken. Wenn der Roman dennoch als ein geschlossenes Ganzes erscheint, dann deshalb, weil er einerseits strikt dem Zeitstrahl folgt und große Ereignisse – wie etwa der Brand des Reichstags oder die Wahlen zum 5. März 1933 – konsequent in den kleinräumlichen Bereich gespiegelt werden; andererseits kommen die Episoden immer wieder auf das Schicksal von sechs herausgehobenen Figuren zurück[18], die gemeinsam mit dem Ich-Erzähler dem Roman ein Gerüst verleihen.

Als wichtigste Vorveröffentlichung kann jedoch Petersens kurze Erzählung Die Straße gelten, die schon im Oktober 1933 in der Prager Exilzeitschrift Neue Deutsche Blätter in der Rubrik Die Stimme aus Deutschland erschien. Vorläufer der später im Buch gebündelten Episoden, markiert sie den Beginn der literarischen Beschäftigung des Autors mit dem Geschehen in der Charlottenburger Wallstraße.

In der wenige Seiten umfassenden Erzählung ist es die Straße selbst, die auf den Nazi-Terror reagiert. Wie ein archaisch-kommunistisches Urwesen führt sie ein kreatürliches Eigenleben, empfindet Wut, Trauer und Empörung angesichts ihrer Okkupation durch die SA sowie der Geschehnisse um die Verhaftung und Ermordung Franz Zanders:

„Die Straße hat sich immer geschmückt und hat zugejubelt, wenn der Freund durchmarschierte, sie hat aufgebrüllt und die Zähne gezeigt, wenn der Gegner sie zwingen wollte. (...) Bisweilen ist sie wie ein Tier, das sich in der Gefahr zusammenduckt und regungslos verharrt (...).“[19]

Die fast expressionistisch anmutende, hochemotionale Gestimmtheit dieses Prosatextes ist im Roman zugunsten einer sachlicheren Darstellungsweise zurückgenommen worden. Pars pro toto zeugt sie jedoch von dem hohen psychischen Druck, dem der Autor – sei es durch das Erleben des NS-Terrors, aber auch durch seine illegale Tätigkeit im Widerstand ­ ausgesetzt war. In einer kaum fünfzehn Gehminuten von der Wallstraße entfernten Kammer einer Ladentischlerwerkstatt in der Knesebeckstraße 6/7, später dann in einer Hütte am Werbellinsee, ca. fünfzig Kilometer nordöstlich Berlins, führte Petersen bis in den Herbst 1934 dann fort, was mit der Erzählung Die Straße 1933 begann. „Es ist August“, so erinnert er sich in seiner Autobiographie Die Bewährung der Anfänge:

„Ich sitze in einem Faltboot. Es schwimmt mitten auf der Havel, (...). Viele Boote sind auf dem Fluss (...). (...) Hier ist ein Wassersport-Eldorado Berlins. (...) Doch an all das denke ich jetzt nicht. Auch die Umgebung, Wasser und Wald, existiert für mich nicht. Ich muss von dem berichten, was in unserer Straße, in der Charlottenburger Wallstraße, geschah! Die Worte jagen sich, Zeile fügt sich an Zeile, Satz an Satz. Empörung und Trauer – und Mut ja auch wiedererstandener Mut und Zuversicht, müssen in der Erzählung Ausdruck finden. Erschöpft, wie nach schwerer körperlicher Arbeit, lege ich den Notizblock endlich zur Seite, verberge ihn in einer Blechbüchse. Der Erzählung fehlt noch der Titel! (...) Und plötzlich, zwischen zwei Paddelschlägen, ist der Einfall da: „Die Straße“ werde ich die Erzählung nennen! Denn sie schildert, was in unserer Straße geschah.“[20]

Zeitgleich zur Veröffentlichung im Ausland erschien die Erzählung, und das macht sie einzigartig in der Literatur dieser Zeit, illegal in zwölf kommunistischen Zellen- und Betriebszeitungen in Deutschland sowie im Herbst 1933 im zweiten Heft der Untergrund-Publikation Stich und Hieb, die von Jan Petersen geleitet wurde. Etwas kleiner als ein Handteller wurde die 12-seitige Zeitschrift erst abgetippt, dann abfotografiert und entwickelt, sowie schließlich in 350-500 Exemplaren auf dünnem Fotopapier abgezogen, zusammengeklebt und illegal verbreitet. Mit der schon erwähnten Zerschlagung des BPRS endete freilich die kurze Geschichte dieser heute äußerst seltenen Zeitschrift. In Berlin-Charlottenburg illegal fabriziert, bildet die Herstellung und Verteilung von Stich und Hieb sowie die illegale Tätigkeit des BPRS einen wichtigen Geschehenshintergrund zu den im Roman geschilderten konspirativen Widerstandspraktiken.

Zwischen Ende April und Ende Juni 1936 – im Olympiajahr schenkten viele im Ausland der NS-Propaganda eines sonnigen Hitler-Staates Glauben – wurde dann der Roman unter dem Titel Meine Straße in mehreren Folgen in der Berner Tagwacht veröffentlicht. 1936 erschien in russischer Übersetzung eine erste Buchausgabe in Moskau, ebendort im 1938 auch eine in deutscher Sprache. Im gleichen Jahr – jetzt erstmals unter dem Titel Our Street – in England veröffentlicht, wurde die Fertigstellung einer französische Ausgabe durch den Beginn des Zweiten Weltkriegs vereitelt. Bis heute beträgt die Gesamtzahl der Bücher weit über 800.000 Exemplare, Unsere Straße wurde DDR-Schulbuchlektüre und in mehr als 27 Sprachen übersetzt.

Erstausgabe aus dem Jahr 1947 (Dietz Verlag)

In Deutschland konnten die Leser Petersens Werk erstmals nach Ende der Hitler-Diktatur in einer Ost-Berliner-Ausgabe des Dietz-Verlages in Händen halten. „Vor einigen Monaten kehrte Jan Petersen mit dem ersten Transport, der die Möglichkeit dazu bot, in seine Heimatstadt Berlin zurück“, ließ ihr Klappentext im Februar 1947 wissen. Das Buch war jetzt um ein Vorwort des Autors vermehrt, in dem er u.a. den abenteuerlichen Schmuggel der Manuskripte über die deutsch-tschechoslowakische Grenze beschrieb.

Mit dieser Schilderung führte Petersen ein Thema fort, das auch im Roman immer wieder anklingt: Durchaus ungewöhnlich für proletarisch-revolutionäre Literatur werden im Buch immer wieder die Gefahren und Mühen des illegalen Schreibens thematisiert. Diese eingestreuten Reflexionen, aber auch die chronologische Abfolge der Episoden und Stimmungsberichte sowie schließlich die Rechenschaft des Ich-Erzählers „Jan“ über seine Handlungen und Gefühle erinnern stark an ein in Buchform veröffentlichtes Tagebuch, und damit an eine Literaturform, die in ihrer Unmittelbarkeit Authentizität verspricht. Den Anspruch des Buches, als „Dokument“ nichts als die Wirklichkeit wiederzugeben unterstreicht die schon den ersten Buchausgaben vorangestellte „Totenliste von Charlottenburg“, in der 18 Opfer von SA-Stürmen, Polizei und NS-Justiz namentlich aufgeführt werden. Und auch die Benennung des Buches als „Chronik“ dient diesem Zweck. Gelten doch diese gemeinhin als objektive Aufzeichnungen historischer Ereignisse – und Chronisten als Menschen, die frei jedweder künstlerischen Eitelkeit lediglich der Weitergabe der historischen Fakten an die Nachwelt verpflichtet sind.

Als „objektiv“-zeitgeschichtlich-literarisches „Dokument“ reiht sich Jan Petersens Unsere Straße dabei in eine ganze Reihe von Exilromanen ein, die als Aufklärungs- und Anklageschriften im Ausland in den ersten Jahren nach 1933 über den Terror in Deutschland berichteten und das wahre Gesicht des Dritten Reiches zeigten: Zu nennen sind hier etwa Willi Bredels Roman Die Prüfung (1934), Gerhart Segers aufsehenerregendes Buch Oranienburg (1934) oder Wolfgang Langhoffs „unpolitischer Tatsachenbericht“ Die Moorsoldaten (1935). Während diese Bücher jedoch allesamt die Qualen und Leiden in unterschiedlichen Konzentrationslagern behandelten, beleuchtete Petersens Buch als einziges den alltäglichen Terror und Überlebenskampf in einer Großstadtstraße nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933. Zugleich bildet es vermutlich den einzigen, im Untergrund des nationalsozialistischen Deutschlands geschriebenen Roman, der nur wenig später im Ausland veröffentlicht wurde.

Bei aller Authentizität der geschilderten Gewaltexzesse und Leiden sowie bei allem dokumentarischen Anspruch darf allerdings nicht vergessen werden, dass auch „unpolitische Tatsachenberichte“ sich literarischer Mittel bedienen und ihnen verständlicherweise keine „objektive“ oder „neutrale“ Haltung zugrunde liegt. Das gilt selbstverständlich auch für unser Buch – man muss da nur an die grandiosen inneren Monologe erinnern, in denen der Ich-Erzähler in Stakkatosprache die Gedanken, Gefühle und Beobachtungen während seiner Verfolgung durch die Gestapo wiederspiegelt. Zugleich ordnete Jan Petersen die Auswahl der Ereignisse bestimmten Wirkungsabsichten unter und reproduzierte im Buch eigene KPD-Weltanschauungen und Erfahrungsmuster. Das beginnt bei dem Frauenbild, das der Roman transportiert, und reicht bis hin zur Charakterisierung anderer Widerstandsgruppen, um nur zwei Beispiele zu nennen. Gerade in Hinblick auf die oft bedeutenden Rollen von Frauen im NS-Widerstand führt das in Petersens Chronik leider zur Verkürzung der Realität – auch der Blick auf die autobiographischen Bezüge des Buches hilft da nicht weiter. So erinnert Preuß’ fromme Mutter an Petersens eigene Mutter, Jans Freundin Käthe an die BPRS-Kollegin und Wilmersdorfer Bibliothekarin Herta Block sowie die nicht ohne Klischees beschriebene jüdische Widerstandskämpferin Ruth, an Rosi Ilberg, die Frau seines BPRS-Kollegen Werner Ilberg.[21] Als Kuriere, Urheberinnen von Flugblatttexten u.a. waren sie zusammen mit Elfriede Brüning und Magarete Weidler an der Seite Petersens im Widerstand.

Wenn Frauen im Roman Unsere Straße dagegen den Schauplatz betreten, dann geschieht das als treusorgende resp. trauernde Mütter oder als „saubere Mädel“, die im Widerstand bestenfalls Hilfsfunktionen übernehmen und an deren Seite sich die „starken Genossen“[22] aufwärmen dürfen. Diese antiquierten Rollenklischees hat Petersens Roman mit den proletarisch-revolutionären Straßenromanen gegen Ende der Weimarer Republik gemeinsam, mit Klaus Neukrantz Barrikaden am Wedding (1930), Willi Bredels Rosenhofstraße (1931) oder Walter Schönstedts Kämpfende Jugend (1932), in deren Traditionslinie er neben der schon erwähnten Verwandtschaft zur Dokumentarliteratur steht.[23]

Ausgabe von 1978 (erschienen im Damnitz Verlag München in der Reihe „Kleine Arbeiterbibliothek“)

Auch die Beschreibung des SPD-Widerstands im Buch ist nicht frei von Ideologie. Anrührend naiv, zaghaft und überaltert werden die Sozialdemokraten vom KPD-Untergrund in die einfachsten konspirativen Praktiken eingeweiht und ordnen sich natürlich der Führungsrolle der Kommunisten bereitwillig unter. Im Gegensatz zu den gerade erwähnten Straßenromanen wird im Buch jedoch ein erster Schulterschluss zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten propagiert. Und das, obwohl auch für das KPD-Mitglied Petersen während der Entstehungszeit des Romans Sinowjews fataler Partei-Leitsatz von den „SPD-Sozialfaschisten“ galt, die als gefährlichste Gegner auf dem Weg zur klassenlosen Gesellschaft als erste zu beseitigen seien.

Nicht anders wie die Unterschätzung der Brutalität des Nazi-Regimes aber auch seiner sozialpolitischen Verlockungen, die strenge hierarchische Gliederung der KPD, die es der Gestapo ermöglichte „gleich ganze Parteiorganisationen von oben nach unten oder umgekehrt „aufzurollen““[24], so trug auch diese KPD-Hauptgegnerschaft zur SPD zum Scheitern der Verhinderung der Nazi-Herrschaft bei.

Weil Petersens Buch, ungeachtet aller Hoffnungsrhetorik und ermunternden Parolen, diese Niederlagen jedoch weder beschönigt noch verschweigt, und zugleich die großen menschlichen Opfer des Widerstands gegen das NS-Regime der Vergessenheit entreißt, gehört es nach wie vor zu den eindrücklichsten Büchern über die Zeit der NS-Diktatur in Berlin. Oder wie sein Freund Stefan Heym das launisch hinsichtlich der noch größeren mündlichen Erzählkünste Petersens formulierte:

„(H)ätte er (...) so gut geschrieben, wie er erzählte, er wäre einer der Großen der deutschen Literatur geworden. So aber begruben seine Genossen ihn fern von den Gräbern berühmterer Kollegen, auf einem Waldfriedhof nahe dem Müggelsee, und vergaßen ihn bald, und der Roman, den er schrieb, „Unsere Straße“, einer der wenigen lesbaren über den illegalen Kampf im Deutschland der ersten Hitlerjahre, harrt der Wiederentdeckung.“[25]

Eckhard Gruber



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[1] Vgl. hierzu: Marie-Luise Kreuter: Der rote Kiez. „Kleiner Wedding“ und Zillestraße. In: Helmut Engel u.a. (Hg.): Geschichtslandschaft Berlin. Orte und Ereignisse. Band 1, hrsg. V. Helmut Engel u.a., Charlottenburg. Teil 1. Die historische Stadt., Berlin 1986, S. 158-177, S. 158. [2] Vgl. hierzu: Joachim Walther: Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller un Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1999, S. 851f. [3] Günter Kunert: Erwachsenenspiele. Erinnerungen, München 1999 (1997), S. 266. [4] Gabriele Tergit: Montag und Donnerstag Überfall (11.8.1927). In: G.T.: Blüten der Zwanziger Jahre. Gerichtsreportagen und Feuilletons 1923-1933. Hg. v. Jens Brüning, Berlin 1984, S. 103f. [5] Sven Reichardt: Vergemeinschaftung durch Gewalt. Der SA-„Mördersturm 33" in Berlin Charlottenburg. In: Stefan Hördler (Hg.): SA-Terror als Herrschaftssicherung. „Köpeniker Blutwoche“ und öffentliche Gewalt im Nationalsozialismus, Berlin 2013, S. 110-130, S. 112 [6] Gabriele Tergit: Atmosphäre des Bürgerkriegs (18.12.1931). In: G.T.: Blüten der Zwanziger Jahre, a.a.O., S. 107. [7] Gabriele Tergit: Freigesprochen. In: Die Weltbühne 28, 1932, 41, S. 543. [8] Gabriele Tergit: Etwas seltenes überhaupt. Erinnerungen, hrsg. und mit einem Nachwort von Nicole Henneberg, Berlin 2018 (1983), S. 81. [9] Joseph Goebbels zit. nach: Sven Reichardt: Vergemeinschaftung durch Gewalt, a.a.O., S. 114. [10] Florian Vaßen: „Das illegale Wort“. Literatur und Literaturverhältnisse des Bundes proletarischer Schriftsteller nach 1933. In: Ralf Schnell (Hg.): Kunst und Kultur im deutschen Faschismus. Literatur und Sozialwissenschaften 10, Stuttgart 1978, S. 319. [11] Jan Petersen: Deutschland ist nicht Hitler. Rede des illegalen westdeutschen Delegierten. In: Zur Tradition der Sozialistischen Literatur in Deutschland. Eine Auswahl von Dokumenten, Berlin 1962, S. 428-430, S. 429. [12] Zit. nach: Sebastian Graeb-Könneker (Hg.): Literatur im Dritten Reich. Texte und Dokumente, Stuttgart 2001, S. 91. [13] Vgl. Yves Müller: Jan Petersen: Unsere Straße. In: Jahrbuch für Forschung zu Geschichte der Arbeiterbewegung, September 2015, S. 185-187, S. 185. [14] Alle Zitate in: Johannes R. Becher: Unser Bund. In: Zur Tradition der Sozialistischen Literatur in Deutschland. Eine Auswahl von Dokumenten, Berlin 1962, S. 81-86. [15] Günter Kunert: Erwachsenenspiele. Erinnerungen, München 1999, S. 266. [16] Die beste literaturhistorische Analyse bietet immer noch: Florian Vaßen: Literatur und Literaturverhältnisse des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller, a.a.O. [17] Sie konnten Ihn nicht beugen. Deutsche-Zentral-Zeitung, Nr. 1, 18.07.1935. Erich Mühsam wurde am 10. Juli 1934 im KZ-Oranienburg von SS-Leuten ermordet. [18] Es sind des Richard Hüttig, Franz Zander, Erich Rothacker, Ernst Schwiebus, Paul Teichert und Erich Hoffmann, d.i. „Ede“. [19] Jan Petersen: Die Straße. In: J. P.: Und ringsum Schweigen. Erzählungen. Yvonne. Erzählung, Verlag der Nation Berlin 1960, S. 00-103, S. 101f. [20] Jan Petersen: Die Bewährung. Eine Chronik, Berlin und Weimar 1970, S. 123f. [21] Weitere Figuren des Romans, die sich aufgrund von Petersens Biographie „Die Bewährung“ im Roman namhaft machen lassen, und die nicht mit ihren Klarnamen benannt wurden, um sie nicht in Gefahr zu bringen, sind ebenfalls im persönlichen Umfeld des Autors beheimatet. Da ist der Wandervogel Heinz Preuß, der in Natura Walter Stolle hieß, und ferner Strubbel für den Jan Petersens eigener Bruder Arthur Pate stand. [22] Vgl. hierzu u.a.: Michael Rohrwasser: Saubere Mädel – starke Genossen. Proletarische Massenliteratur? Frankfurt/M. 1975. [23] Vgl.: Klaus Neukrantz: Barrikaden am Wedding. Roman einer Straße aus den Berliner Maitagen 1929, Wien Berlin Zürich1931; Willi Bredel: Rosenhofstraße. Roman einer Hamburger Arbeiterstraße, Berlin 1931; Walter Schönstedt: Kämpfende Jugend. Roman der arbeitenden Jugend, Berlin 1932. [24] Detlev Peukert: Der deutsche Arbeiterwiderstand 1933-1945. In: Kar Dietrich Bracher u.a. (Hg.): Nationalsozialistische Diktatur 1933-1945. Eine Bilanz. Schriftenreihe der Bundeszentrale für politsche Bildung, Band 192, Bonn 1986, S. 633-654, S. 643. [25] Stefan Heym: Nachruf. München 1988, S. 655.

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