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»Die Familie Buchholz« von Julius Stinde

Im August erscheint bei uns Julius Stindes Die Familie Buchholz, eine Gesellschaftssatire aus dem Jahr 1883. Warum der Roman eine Wiederentdeckung lohnt und was es mit dem Autor auf sich hat, der eigentlich Apotheker und promovierter Chemiker war, – darüber schreibt Arnt Cobbers in seinem Nachwort, das wir hier in voller Länge teilen.

Nun begab es sich – erzählt Julius Stinde (hier leicht gekürzt) in Velhagen & Klasings Monatsheften 1897 unter dem Titel Wie ich Bekanntschaft mit Frau Wilhelmine Buchholz machte –, dass ich an einem Abend bei einer mir lieb gewordenen Familie war. An jenem Abend sprach die sonst frohgemute Frau des Hauses unverhohlen ihre Entrüstung über ein Vorkommnis aus, dem sie keine heitere Seite abzugewinnen vermochte. Es hatten nämlich ihre beiden Töchterchen ein Büchlein mit aus der Schule heimgebracht, ein Stück für das Puppentheater, das sich in der Tat keineswegs für Kinder eignete, wie sich schon bei flüchtiger Durchsicht ergab. Eine Berliner Posse mit Hinterhausverhältnissen, einem Findelkinde, Ein- und Zweideutigkeiten. Ich versprach das Meinige zu tun und diese Art Literatur nach Gebühr zu verurteilen, allen bösen Puppentheater-schreibern zur Warnung, allen Eltern zu Achtsamkeit. So wurden wir wieder froh und guter Dinge; das Puppentheater war als moralische Anstalt vorläufig gerettet.

Es war aber doch eine eigene Sache mit dieser Rettung, denn als ich tags drauf am Schreibtisch das verwünschte Stück prüfte, fand ich es bis auf die durchaus verwerflichen Stellen so albern und dürftig dass ein regelrechter Entrüstungsartikel ein Schießen mit Kanonen nach Spatzen gewesen wäre. Um mein Versprechen zu halten, ersann ich einen Ausweg. »Wie wäre es«, dachte ich, »die Wirkung des Stückes auf gut bürgerliche Leute zu zeigen, wenn die Kinder es in all ihrer Harmlosigkeit darstellten? Hierbei würden die Leser in launiger Weise aufmerksam gemacht, die Büchlein, die die Jugend einander leiht, und das, was sie liest, zu überwachen, und der Zweck wäre erreicht.«

Gedacht, getan. Kritiker, Schulmeister und Novellist vereinigten sich, die Aufgabe zu lösen. Und doch, als der Aufsatz geschrieben war, sah ich, dass ein anderes noch mitgearbeitet hatte: das war der Frohsinn der Hausfrau, die mir auf die Seele gebunden hatte, ernst, sehr ernst vorzugehen. So war es ja in ihrem Sinne, wie der Aufsatz sich gestaltete, und ich wusste, als ich ihn durchbessert hatte, dass sie sagen würde: »So ist’s recht, Onkel Stinde.« Und das sagte sie, als die »Puppenkomödie« im November 1878 im deutschen Montagsblatte gedruckt war. Wie innig heiter war der Abend, als wir uns dessen freuten.

Jener Aufsatz war so gehalten, als hätte die brave Berliner Frau brieflich dem Redakteur des Blattes ihr Leid geklagt, und da ich um eine Unterschrift verlegen war, fiel mir bei, dass ich schon einmal mich eines weiblichen Pseudonyms unbeanstandet bedient hatte, und setzte ruhig Wilhelmine Buchholz darunter. Und glaubte damit die Sache abgetan.

Ausgabe aus den 1890er-Jahren

Es geschah aber anders. An die Redaktion lief ein Schreiben ein, von der Heinreich unterzeichnet, deren Name in jenem Aufsatz vorkam, das der Buchholzen die Leviten las, gleichzeitig mit der Bemerkung, dass die Kinder den geliehenen Schmortopf wieder zurückbringen würden, dass jedoch das Loch schon darin gewesen sei, wie sie ihn bekommen hätten. Und aus dem West-fälischen traf ein Brief von zwei jungen Mädchen ein – »zwei Heideblumen« unterzeichnet –, die gestanden, dass sie sich für Onkel Fritz interessierten, und fragten, ob er schon verheiratet sei.

Da sagte der Redakteur: »Stinde, schreiben Sie mehr solcher Buchholzartikel!«

Und ich schrieb.

So entstanden nach und nach die Abschnitte, aus denen später die Familie Buchholz wurde, und zwar unter regster Teilnahme des Leserkreises. Gerade die möglichst treue Schilderung guter, kleinbürgerlicher Verhältnisse war es, woran alle Gefallen fanden, die nicht bis über die Augen in solchem Milieu drinsaßen. Ich hatte meine Freude daran, möglichst echt wiederzugeben, was ich gesehen, erfahren, erlebt und erlauscht hatte: Die Übersetzung all dessen in das Buchholzische betrachtete ich als heiteres Spiel, das seinen Zweck erfüllte, wenn es den Lesern gefiel. Als daher mein Verleger mir den Vorschlag machte, die Buchholzartikel als Buch herauszugeben, wehrte ich ab. Die Leser des Monatsblattes bildeten eine große Familie, die waren auf den Maskenscherz eingegangen, dem großen Publikum aber die »ominösen« Briefe zu unterbreiten, das erregte mein Bedenken. Ich sah mich schon im Geiste gesteinigt.

»Sie werden noch anderer Meinung«, sagte mein Verleger. – Er hat recht behalten.



Man könnte dem begnadeten Fabulierer Julius Stinde noch lange zuhören, doch der Platz für das Nachwort ist schon zur Hälfte gefüllt. Drum sei nur rasch zusammengefasst: Stinde reiste nach Italien, sah das Land plötzlich mit Frau Buchholzens Augen und machte daraus 1883 ein Buch – das sich so gut verkaufte, dass er seine Zeitungsartikel tatsächlich überarbeitete und 1884 unter dem Namen Die Familie Buchholz veröffentlichte. Fünf weitere Buchholz-Bücher erschienen bis 1896, und sie waren so populär, dass ein Leipziger Verlag mit ebenfalls großem Erfolg Geschichten über eine Familie Buchholtz mit tz erscheinen ließ – das Urheberrecht bot Stinde noch keine Handhabe.

Was Original und Kopie unterscheidet, sind nicht nur Stindes Einfallsreichtum, die kunstvolle Konstruktion seiner Szenen und sein subtiler Sprachwitz, sondern auch die Genauigkeit, mit der er hinschaut und beschreibt. Und diese Beobachtungsgabe war vielleicht, so vermutete er zumindest selbst, die Frucht seines ersten, eigentlichen Berufs.

Julius Stinde um 1890

Julius Stinde hatte einen überraschenden Lebens-lauf hinter sich, ehe er mit Mitte vierzig zum erfolgreichsten Berliner Volksschriftsteller seiner Zeit wurde. Geboren am 28. August 1841 im Pastorat von Kirch-Nüchel in Ostholstein, wuchs er im Pfarrhaus des nahegelegenen Lensahn auf – das er bis an sein Lebensende regelmäßig besuchte. Er absolvierte eine Apothekerlehre in Lübeck, studierte Chemie in Kiel und Gießen, promovierte 1863 in Jena Über einige Silbersalze und deren Verhalten zum Lichte und arbeitete ab 1864 als »Werksführer« einer Chemiefabrik in Hamburg. Stinde scheint ein Mann von grenzenloser Neu- und Wissbegier, aber auch von großem Fleiß gewesen zu sein. Er fertigte mikroskopische Präparate, unterrichtete an einer Höheren Knabenschule, hielt Vorträge im Gewerbeverein und im Arbeiter-bildungsverein und schrieb wissenschaftliche Bei-träge für verschiedene Blätter – bis der Verleger der vielgelesenen Zeitung Reform, so hat er es selbst erzählt, ein Talent fürs Populärwissenschaftliche in ihm entdeckte. Neben seiner fortan umfangreichen Zeitungsarbeit, u. a. berichtete er als »Korrespondent« von der Pariser Weltausstellung 1867, erschien 1866 der durchaus ernsthafte Ratgeber Wasser und Seife oder allgemeines Wäschebuch – unter dem Pseudonym Wilhelmine Buchholz (so hatte eine bereits verstorbene stadtbekannte Hamburger Waschfrau geheißen). 1868–70 folgte das mehrbändige Prachtwerk Blicke durch das Mikroskop. Nebenbei verfasste Stinde zahlreiche Mundartstücke für Hamburger Volkstheater, die sehr populär wurden: Die Nachtigall aus dem Bäckergang etwa oder Eine Hamburger Köchin. Und sogar Polizeiromane schrieb er unter Pseudonym.

Da hatte er bereits seinen ersten Beruf verlassen – »Die Fabrik qualmte am Ende der Stadt, wo die Wiesen anfingen und die Elbe hinter den Deichen floss, die den Blick auf den Strom versperrten, und mir war, als wenn die Dämme mich vom Leben schieden.« Als Festangestellter war er in die Redaktion der Reform eingetreten und schrieb nun einige Jahre alles, was anfiel, Reportagen und Lokalberichte, Novellen, Gedichte und Artikel über die neuesten Erfindungen und Entdeckungen, vor allem aber Kritiken, über Kunst, Musik (Stinde spielte selbst Orgel) und Theater. Doch »ich fühlte, wie die Lust am Schaffen in dem täglichen Spaltenfüllen unterging. Es wurde ja doch kein Theaterstück besser oder schlechter, ob ich es tadelte oder lobte. … Umso drückender empfand ich die Arbeit des Tageskritikers, die Kraft erheischt, aber keine Befriedigung gibt, es sei denn den Glauben an Gottähnlichkeit, wozu ich mich nie aufschwingen konnte.«

Stinde im Gespräch mit seiner Romanfigur Wilhelmine Buchholz und deren Tochter

Stinde war mutig genug, einen radikalen Schritt zu tun: 1876, mit 34 Jahren, zog er nach Berlin, wo er Freunde hatte, aber als Schriftsteller kaum bekannt war. Doch das Glück war dem Tüchtigen hold. Er lernte rasch die richtigen Leute kennen, wurde Mitarbeiter vielgelesener Zeitschriften, feierte Erfolge mit seiner wunderbaren Satire Die Opfer der Wissenschaft und seinen Waldnovellen und durfte sich wenige Jahre später über seinen ersten »Bestseller« freuen, besagte Familie Buchholz.

Stinde scheint ein unermüdlicher Arbeiter geblieben zu sein. Neben den fünf weiteren Buchholz-Bänden verfasste er Novellen und plattdeutsche Geschichten, vor allem aber zahlreiche Aufsätze, in denen er die neuesten naturwissenschaftlichen Erkenntnisse einer breiten Leserschaft nahebrachte. Egal ob er über Röntgenstrahlen oder den Dieselmotor, den Mars, Bakterienkulturen oder die Farbphotographie, »Speisekammer-Gifte«, den Senf, das Nachtwandeln, Karl Ditters von Ditterdorf oder den Rattenfänger von Hameln schrieb – all seine Artikel sind genau durchdacht und klar und verständlich formuliert. »Bei meinen naturwissenschaftlichen Arbeiten weiche ich nicht einen Finger breit vom Wege der Wahrheit ab, soweit er zur Zeit gangbar und für mich erreichbar ist,« war sein Credo, »und wenn ich fabuliere, folge ich der Phantasie und zwar am liebsten dahin, wo die Sonne scheint.«

Zumindest was die Herzenswärme und Schalkhaftigkeit angeht, steckt in der Wilhelmine Buchholz wohl viel von Stinde selbst, der übrigens 1882 zu den Gründungsvätern des »Allgemeinen Deutschen Reimvereins« gehörte und als Leiter einer »Dicht-Lehranstalt für Erwachsene« fungierte. Dass seine Künstlerfreunde in ihren Nachrufen Stinde, der unverheiratet blieb, als liebenswürdig und lebensfroh, als begnadeten Unterhalter, der gerne Zauberkunststücke vorführte, sowie als »frohen, klugen und ausdauernden Zecher« (Johannes Trojahn) priesen, aber auch als unprätenziös und absolut zuverlässig, verwundert nicht.

Julius Stinde starb, trotz eines langjährigen Herzleidens überraschend, mit 63 Jahren am 8. August 1905 bei einem Ferienbesuch in Olsberg bei Kassel. Seine letzte Ruhestätte fand er nicht in Berlin, wo er in der Dorotheenstraße, lange in der Mittelstraße und zuletzt in der Nachodstraße in Wilmersdorf wohnte, sondern in Lensahn.

Arnt Cobbers



Die Zitate, Daten und Fakten stammen aus dem verdienstvollen Band von Ulrich Goerdten: Julius Stinde 1841–1905. Jubiläumsschrift zum 150. Geburtstag, Lensahn 1991.



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