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„Demmin steht exemplarisch für ähnliche Ereignisse“ – Carolin Miltenburger im Interview

Aktualisiert: 18. Juli 2023

Fünf Fragen an Carolin Miltenburger zu ihrem Debütroman „Luisentor“

Vor einem unscharfen Hintergrund sieht man auf der rechten Seite ein Schwarz-Weiß-Foto von Carolin Miltenburger, links daneben steht das Cover von „Luisentor“. Darauf ist ein Holztisch zu erkennen, auf dem Fotos und Unterlagen liegen, im Fokus ist eine Postkarte, auf der das Luisentor in Demmin abgebildet ist. Daneben sieht man die Schatten von Soldaten.

Frau Miltenburger, Ende Juli erscheint ihr Debütroman Luisentor. Darin erzählen Sie die Geschichte einer Familie vor dem Hintergrund des Massensuizids in Demmin 1945 – ein Ereignis, über das lange Zeit kaum jemand gesprochen hat. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, über dieses Thema zu schreiben?

Der Anlass, einen Roman über den Massensuizid zu schreiben, war wahrscheinlich ein zufälliger Besuch in Demmin. Bereits beim ersten Gang durch die Stadt spürte ich eine ungewöhnliche Atmosphäre. Ich würde sie bedrückend nennen. Man sah, dass die Stadt stark zerstört gewesen sein muss und nicht sehr schön wieder aufgebaut wurde. Es gab wenig junge Menschen auf der Straße – all das gibt es zwar auch in anderen Städten. Aber es war etwas Beklemmendes in dieser Atmosphäre, das ich mir nicht erklären konnte. Ich habe dann darüber gelesen, was in Demmin passiert war.

Im Gegensatz zu anderen Orten, an denen es Massensuizide gegeben hat, ist das Ereignis in Demmin gut dokumentiert. Ich hatte mich schon länger mit dem Thema intergenerationelles Trauma beschäftigt, mit der „stillen“ Weitergabe von zum Beispiel Kriegserfahrungen an die nächste und übernächste Generation. Von Ereignissen wie in Demmin hatte ich kaum gehört. Allerdings hatte mir meine Mutter (Jahrgang 1931) erzählt, dass es auch in ihrer Heimatstadt – Frankfurt am Main – solche Überlegungen in der Bevölkerung gab. Die Sieger sollten ein „schlafendes Deutschland“ finden.

Der Besuch in Demmin war vielleicht der Funke, den das Thema brauchte, um zu einem Roman zu werden. Beim Schreiben habe ich dann entdeckt, welche eigenen Themen und Erinnerungen wach wurden. Die Erzählungen meiner Großmutter und meiner Eltern über die Kriegsjahre, über die „schlechte Zeit“. Und wie diese Themen vielleicht auch mich geprägt haben. Insofern steht Demmin auch exemplarisch für ähnliche Ereignisse und für die Schwierigkeit, mit ihnen umzugehen.


Auf einem alten Schwarz-Weiß-Foto sieht man das Luisentor in Demmin.

Wie haben Sie zu den realen historischen Hinter-gründen recherchiert?

Ich habe alles zu Demmin 1945 gelesen, was ich finden konnte, dazu weitere Quellen genutzt – historische Archive, Zeitungsartikel, Dokumentarfilme. Ich bin zweimal nach Demmin gefahren, was zu Beginn der Corona-Pandemie zum Beispiel gar nicht möglich war, sodass ich zunächst nur auf Basis dieser Quellen schreiben musste.

Für meine Dissertation hatte ich Mitte der 1980er-Jahre viele Interviews mit alten Frauen in Berlin-Neukölln gemacht. Zwar ging es damals um eine andere Frage-stellung, die Frauen haben aber immer sehr viel von ihrem Leben erzählt. Zum Teil kamen sie aus Mecklenburg-Vorpommern oder Brandenburg und waren im Renten-alter zu ihrer Familie nach West-Berlin ausgereist.

Diese Erzählungen wie auch andere Zeitzeugen-Interviews, die ich für andere Zwecke gemacht hatte, waren ein reicher Schatz an Beschreibungen, wie man sich den Alltag in den letzten Kriegsmonaten vorstellen kann. Zeitzeugen hierfür gibt es heute kaum noch.


Wie viel echte Geschichte und wie viel Fiktion steckt in Luisentor?

Soweit es den historischen Kontext betrifft, habe ich mich bemüht, alle vorhandenen Quellen zu nutzen, um diesen Teil der Geschichte so darzustellen, wie er war. Das ist ohnehin schwierig, da es immer unterschiedliche Perspektiven und Erinnerungen gibt. Es gibt Geschichten, die werden immer wieder berichtet und gelten daher als „wahr“. Hierzu gehört die Geschichte, dass russische Offiziere bei einem Umtrunk im Haus des Apothekers vergiftet worden seien und dass dies der Grund für die Gewalttaten war, die dann folgten. In einem wissenschaftlichen Aufsatz von 2022 (Emmanuel Droit, Les suicidés de Demmin) werden daran Zweifel formuliert und der Autor kommt auf der Basis von Quellenauswertungen zu dem Schluss, dass sich die Geschichte wahrscheinlich nicht so zugetragen hat. Also gibt es bereits in der echten Geschichte fiktive Elemente.

In der multiperspektivischen Erzählung erleben wir Zeithistorisches nur aus der Erinnerung der Protagonisten. Auch über die Gewalttaten und die Suizide erfahren wir nur indirekt etwas, da eine der Figuren sie von Ferne gehört und die Folgen gesehen hat, nicht aber die Handlungen selbst. Diese Distanz war mir wichtig, um deutlich zu machen, dass wir nicht genau wissen, wie es war, und mit welchen Gefühlen die Betroffenen das alles erlebt haben. Es könnte so gewesen sein, aber auch anders.

Ich habe das Buch in 2022 zunächst bei „Books on Demand“ herausgebracht (also als Selfpublisher). Damit hatte ich in diesem Frühjahr eine Lesung in Altentreptow, etwa 30 Kilometer von Demmin entfernt. Auch dort gab es einen Massensuizid im Mai 1945. Bei der Lesung meldete sich ein Mann aus dem Publikum und sagte: „Ich bin 87 Jahre alt. Ich habe das als Kind miterlebt. So wie Sie das beschreiben, so war es.“ Das ist es natürlich, was man erreichen will. Dass die Betroffenen den Eindruck haben, ihr Erleben ist gut wiedergegeben.

Das Cover von „Luisentor“. Darauf ist ein Holztisch zu erkennen, auf dem Fotos und Unterlagen liegen, im Fokus ist eine Postkarte, auf der das Luisentor in Demmin abgebildet ist. Daneben sieht man die Schatten von Soldaten.

Der Roman spielt in großen Teilen im Berlin des Jahres 1990. Wieso haben Sie sich entschieden, die Erzählung gerade in diesem Jahr und in dieser Stadt zu verorten?

Zunächst gab es eine ganz praktische Überlegung zum Zeitpunkt, nämlich, dass die Generationen, die das Geschehen erlebt haben, heute nicht mehr leben würden beziehungsweise viel zu alt wären. Also habe ich die ganze Handlung in einen Zeitraum verlegt, der es möglich machte, mit diesen Generationen noch Gespräche zu führen. Noch Reisen zu machen. Ich bin 1979 nach Berlin gekommen. Habe also ungefähr zehn Jahre in einer geteilten Stadt gelebt, die wahrscheinlich mehr als jede andere von den Folgen des Zweiten Weltkriegs gezeichnet war. Man hatte sich in der geteilten, eingemauerten Stadt irgendwie eingerichtet. 1990 änderte sich alles. Es änderte sich auch der Zugang zum Umland, der Zugang zu Information, der Zugang zu Menschen aus dem anderen Teil Deutsch-lands. Berlin im Jahr 1990 markiert das Ende des Kalten Krieges, den Beginn des Zusammen-wachsens. Für mich war das die ideale Zeitengrenze und der ideale Ort.

Eine Geschichte im Jahr 1990 spielen zu lassen, war auch eine Herausforderung, noch einmal in die eigenen Erinnerungen einzutauchen, und auch auf alles zu verzichten, was wir inzwischen durch die Verfügbarkeit von Internet und mobiler Kommunikation kennen. Die Krimis von Ian Rankin mag ich auch aus diesem Grund. Die Welt ohne Internet und iPhone. Die Hauptfigur Anna konnte also nichts googeln, war in ihrer Kommunikation auf das analoge Telefon angewiesen, und vielleicht haben diese alten Strukturen einerseits die Dinge erschwert, andererseits eine andere Herangehensweise erzwungen. Denn sie musste andere Menschen fragen. Vielleicht ist das eine Fähigkeit, die wir wieder mehr praktizieren sollten.


Was wünschen Sie sich, dass die Leser*innen von Luisentor aus Ihrem Roman mitnehmen?

Wenn Sie noch eine Kiste auf dem Dachboden haben, mit Familien-Erinnerungen, Fotos, Briefen. Eine Kiste, von der sie denken, darum kümmere ich mich später, wenn ich Zeit habe. Machen Sie sie auf. Verschieben Sie das nicht auf das Rentenalter. Machen Sie sie auf, solange Ihre Eltern oder alte Verwandte noch leben. Stellen Sie Fragen, auch wenn sie das Gefühl haben, die Fragen könnten zum Beispiel ihren Eltern unangenehm sein. Vielleicht sind Sie das gar nicht. Vielleicht freuen sich Ihre Eltern, dass endlich mal jemand fragt. Es wird ein etwas holpriger Anfang sein, aber später werden sie froh sein. Auch wenn es keine ganz großen Familiengeheimnisse gibt. Aber später können Sie keinen mehr fragen. Die „richtigen“ Zeitpunkte, auf die in Annas Familie immer gewartet wird, gibt es vielleicht nicht.


„Luisentor“ gibt es ab dem 17. Juli 2023 überall dort, wo es Bücher gibt. Sie können das Buch schon heute bei uns im Webshop oder in der Buchhandlung Ihres Vertrauens vorbestellen.



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